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Mittwoch, 6. April 2011

Aufgabe Lehrheft 1

Pia im Glück

Pia schaut sich aufmerksam um. Schnell geht sie die Straße entlang, rennt fast. Eben hat sie ihren Bruder zu seinem Freund gebracht, Kindergeburtstag feiern. Ihre Eltern arbeiten. Deshalb passt sie nachmittags auf ihren kleinen Bruder auf.

Sie läuft den kleinen Berg in die Stadt hinunter. Zwei Stunden hat sie Zeit, dann muss sie ihren Bruder wieder abholen. 2 Stunden Zeit – eine Ewigkeit! Ihr Deutschlehrer hat ihr von einer Bücherei im Ort erzählt. Seit Monaten bettelt sie ihre Mutter an, einmal mit ihr dort hin zu gehen, damit sie sich ein Buch aussuchen kann. Aber noch nie war Zeit dafür. Im Gegenteil, ihre Mutter hat ihr sogar verboten, dort hin zu gehen. Dabei will Pia, seitdem sie in der Schule ist und lesen kann, nur noch eines: lesen nämlich!

An der Ampel muss sie halten, ungeduldig tritt sie von einem Fuß auf den anderen. Nachdem die Ampel auf grün umspringt überquert sie schnell die Kreuzung, geht die Lindenstraße hinunter und biegt wenig später in einen kleinen Hinterhof ab. Das Haus in dem Hof ist baufällig, alt und hat eine Renovierung nötig. All das nimmt Pia nicht war. Sie sieht nur das weiße Schild, auf dem mit blauer Schrift „Stadtbücherei“ geschrieben steht.

Ihr Herz pocht vom Laufen und vor Aufregung. Vorsichtig öffnet sie die Tür, fast hat sie Angst einzutreten. Hinter dem Eingang befindet sich ein kleiner Flur. Rechts davon geht ein Durchgang ab. Zaghaft tritt Pia ein und steht in einem großen Raum mit vielen hohen Regalen. In all diesen Regalen befinden sich Bücher. Schmale Bücher, dicke Bücher, kleine Bücher, große Bücher, Bücher über Bücher. Ehrfürchtig blickt sie sich um, schüchtern und unsicher ist sie.

„Kann ich dir helfen?“

Pia schrickt zusammen. Vor ihr steht eine ältere Dame. Alles an ihr ist schwarz. Der Rock, der Pullover, die Brille, die Schuhe, die Strümpfe, die zum Dutt gebundenen Haare. Sprachlos schaut Pia die Frau an.

Die Frau beugt sich zu Pia und nimmt ihre Hand.

„Ich bin Frau Abel. Wie heißt du?“

„Ich …“ stottert Pia, „ich bin Pia“.

„Hallo Pia! Ich freue mich, dich kennen zu lernen.“ Frau Abel lächelt das Mädchen freundlich an. „Du willst dir sicher ein Buch ausleihen, was?“

Pia nickt, vor Aufregung kann sie nicht sprechen.

„Soll ich dir mal zeigen, wo die Kinderbücher stehen?“ Frau Abel führt Pia in einen anderen, kleineren Raum.

„So, das hier sind die Kinderbücher! Von diesen Regalen darfst du dir Bücher ausleihen, allerdings nicht mehr als zwei am Tag.“ Sie grinst Pia an. „Wir haben hier viele junge Leser und alle sollen in den Genuss kommen, neue Bücher zu entdecken.“

Pia blickt Frau Abel an.

„Schau mal, hier stehen Bilderbücher für die ganz kleinen Kinder. Dafür bist du sicherlich schon zu groß, oder? Wie alt bist du denn?“

Pia reckt sich. „Ich bin schon 6 Jahre alt! Und kann selber lesen!“

„So“, schmunzelt Frau Abel, „6 Jahre bist du schon? Na, dann wollen wir mal gucken, ob wir hier irgendwo auch Bücher für 6-jährige große Mädchen finden.“

Sie schiebt Pia vorsichtig an den voll gestellten Regalen entlang.

„Was hast du denn bisher schon alles gelesen?“ fragt Frau Abel.

„Meine Schulbücher“, antwortet Pia.

„Und sonst?“

Verlegen schaut Pia auf den Boden.

„Sonst noch gar kein Buch“, antwortet sie traurig. „Meine Eltern wollen nicht, wenn ich meine Zeit mit Lesen vertrödele. Ich soll lieber mit meinem kleinen Bruder spielen als meine Nase in Bücher zu stecken, sagt meine Mama immer.“

Sanft nimmt Frau Abel das Gesicht des Mädchens in die Hand und hebt das Kinn an. „Und über was möchtest du gerne lesen? Was interessiert dich“?

„Schule“, kommt es blitzschnell aus Pias Mund, nun gar nicht mehr so schüchtern.

„Schule“, schmunzelt Frau Abel. „Na, zum Glück gibt es bei uns auch Bücher über Kinder in Schulen“.

Zielstrebig geht sie auf das Regal rechts an der schmalen Seite des Raumes zu. Langsam lässt sie ihren rechten Zeigefinger an den Buchrücken entlangfahren, bis sie schließlich „Hier ist es ja“ ausruft.

„Das wird dir bestimmt gefallen, Pia!“ wendet sie sich an das Mädchen.

„Hanni und Nanni sind immer dagegen“? gluckst Pia, nachdem sie einen Blick auf den Buchdeckel geworfen hat. „Das sind ja lustige Namen! Ich kenne niemanden, der so heißt!“

„Das sind nicht nur lustige Namen, das ist auch ein lustiges Buch“, meint Frau Abel. „Hanni und Nanni sind Zwillinge, die gegen ihren Willen in ein Internat gesteckt werden und erst alles schrecklich finden. Später finden sie Freunde und hecken jede Menge Streiche aus.“

„Ein Internat? Was ist ein Internat?“

„Ein Internat ist eine Schule, in der die Schüler wohnen“, erklärt Frau Abel.

„Und das Buch kann ich mir ausleihen?“ fragt Pia. „Kostet das was?“

„Nein, für Kinder kostet das nichts“, sagt Frau Abel. „Aber wenn du das nächste Mal kommst, musst du mir diesen Zettel ausgefüllt und von deinen Eltern unterschrieben mitbringen.“ Sie hält Pia eine Beitrittserklärung hin. „Dann wirst du Mitglied in unserer Bücherei und darfst dir Bücher ausleihen.“

Pia schluckt ein bisschen. „Das schaffe ich, dass Papa mir den Zettel unterschreibt“.

Gerührt blickt Frau Abel auf das kleine Mädchen, dass das Hanni- und Nanni-Buch ganz fest an sich drückt.

„Na, dann verschwinde mal schnell und fang an zu lesen. Und wenn du das nächste Mal kommst, erzählst du mir, ob dir das Buch gefallen hat“.

„Danke“!

Glücklich läuft Pia hinaus. Sie kann es gar nicht erwarten, mit dem Buch anzufangen. Ungeduldig öffnet sie dieses noch auf dem Hinterhof. Sofort ist sie im Text versunken, ganz schnell fiebert sie mit den Zwillingen im „Lindenhof“ mit. So vertieft ist sie in das Buch, dass sie keinen Blick mehr für das Drumherum auf der Straße und auf dem Bürgersteig hat. Abgelenkt läuft sie gegen einen Laternenpfahl. Pia stößt sich heftig den Kopf und stürzt dabei auf den Boden.

„Ist dir was passiert? Was machst du denn da?“ fragt eine Frau.

„Ich lese!“ antwortet Pia mit leuchtenden Augen. „Und wenn ich groß bin, schreibe ich auch ein Buch!“

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